Wenn der Tag seine Kleider abstreift, um der Nacht nah zu sein,
schenke ich die Zeit her und verliere mich im Augenblick.
Dann flüstert die Vergangenheit der Zukunft zu, dass ich unsterblich sei.
Gestern war Silvester.
Ich sitze sicher auf dem Sessel meines Urgroßvaters. Hinter der Rückenlehne ist nichts von mir zu sehen, einzig der Tropfständer verrät, dass ich noch da bin. Meine Familie hat sich am Esstisch zum abendlichen Kartenspiel versammelt und ich zeichne, wie immer, auch jetzt. Meine Träume über Künftiges, meinen Verfall, den ich im Fensterflügel vor mir sehe und den winterstillen Garten dahinter. Langsam ziehen die Figuren über das samtweiche Papier. Jeder Strich müht sich aus meiner verzwergten Welt hinaus. Ich kann die Kohle kaum noch halten.
Auf dem Papier spaziere ich am Lido, schwimme in der Adria, springe in das nächste Vaporetto nach San Michele hinüber, um die Versteinerten der Toteninsel in ein Gespräch zu verwickeln. Stelle Fragen und suche Antworten. Wie der Junge, der ein paar Grabstellen weiter weg sitzt. Der ebenso zeichnet. Er ist älter, schon fast ein Mann. Um zu wissen, was ich ihm antworte, kritzel ich ihn auf mein Papier. Seine Züge, seine Wärme, diesen Moment, wenn er hinausschaut, wieder zurückkommt aus den inneren Welten. Manchmal schaut er danach herüber und ich vergesse zu atmen. Versinke im graugrünen seiner Augen. Wenn ich wieder zu mir komme, bin ich allein.
Vor Toresschluss muss ich den Ort verlassen, Skizzen und Stifte zusammenraffen, dem unwilligen Gegrummel des Padre folgen und schließlich auf das letzte Boot gequetscht, hinüber schippern zu den Lebenden.
Im Abenddämmerlicht flackern die Totenkerzen übers Wasser, als letzter Gruß zur Nacht.
So war das noch im Sommer.
Feuer knistert. Mamas Uhr tickt. Kohle schieben meine Finger über das samtweiche Papier, kreuzen Linien. Schiefergraue Krallen und der weiß beklebte Zugang der Kanüle ist verschmiert. Die frische Luft durch einen dünnen Schlauch. Die grellen Röhren des Krankenzimmers, aus dem ich mich entlassen habe, hätten auch diese Lust radieren.
Ein viertel Jahr. Vielleicht auch kürzer, … „
24. September 2019 in der Anthologie Monstrum im Litac Verlag erschienen:

Mit Widmung bei mir bestellbar, über Kommentarspalte
Das liest sich super. Hat etwas von Fantasy 😉
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… vielen Dank, liebe Christine. Naja ich glaube, dass das an der Personifizierung des Monströsen liegt, die ja in der Realität keine eigene Stimme bekommt, meinst du so?
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Wundervoller Text, bin Zeichnerin und Malerin und kann einfach eintauchen.
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ich danke dir, das freut mich sehr!
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